Regiestatement „Kinder unter Deck“ von Bettina Henkel
Als mein Vater mich einlud, ihn zu einer Tagung* in Polen zu begleiten, und mir bei dieser Gelegenheit auch seinen Geburtsort in der Nähe von Poznań (Posen) zeigen wollte, war mir klar, dass ich ihn mit der Kamera begleiten würde. Ich sagte sofort zu. Daraus sollte ein Film entstehen. Bis daraus wirklich ein Film entstand, vergingen aber Jahre – nicht nur weil aus meiner Teilnahme an der Tagung krankheitsbedingt nichts wurde.
„Umgesiedelt – Vertrieben“ war der Titel der Konferenz, die sich mit der Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus dem von Deutschland (völkerrechtswidrig) annektierten Großpolen, dem sogenannten Warthegau und der Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Lettland und Estland während des Zweiten Weltkriegs beschäftigte. Sie hinterließ tiefe Spuren bei meinem Vater und markierte den Anfang einer wichtigen Auseinandersetzung zwischen ihm und mir. In der Auseinandersetzung zwischen Tochter und Vater setzt der Film an. Der Film brauchte nicht zuletzt deshalb so viel Entstehungszeit, weil die inneren Prozesse, ausgelöst durch die vielen Gespräche vor und währenden den Dreharbeiten, in „Echtzeit“ emotional verarbeitet werden mussten. Ein Unterfangen mit ungewissem Ausgang. Für mich als Tochter und Betroffene hinter und vor der Kamera war dies bis in die letzten Schnitttage eine Herausforderung – nicht weniger für meinen Vater, der den Prozess sehr intensiv erlebte. Immer wieder fühlte er sich re-traumatisiert durch die vielen Erinnerungen, die hochkamen. Der Film zeigt diese Prozesse von Vater und Tochter auf, verdichtet sie und verzichtet dabei bewusst auf die zeitliche Dimension in chronologischer Abfolge.
Transgenerationale Übertragung traumatischer Erlebnisse im Film
Die Fragestellung der transgenerationalen Übertragung und seiner psychischen Dynamik über Generationen hinweg bildete eine magische Anziehungskraft für mich. Es braucht mehrere Generationen, um ein tiefliegendes Trauma aufzulösen, so es nicht bearbeitet wird, sagt die Forschung. „Kinder unter Deck“ unternimmt den Versuch der Klärung der emotionalen Geschichte dreier Generationen und bohrt sich in Erinnerungen rein, die als traumatisch erlebt wurden.
Dabei ist der Film auch als ein seelisches Roadmovie durch tiefliegende, diffuse Gefühlsschichten, bedingt auch durch die historischen Umwälzungen im Nordosten Europas, anzusehen. Tatsächlich begaben wir uns auf eine Reise von 22 Tagen durch fünf Länder (Lettland, Schweden, Polen, Deutschland, Österreich) und waren an 14 Orten – ein enormer Kraftakt für alle.
Eine weitere (Zeit)Reise wird im Film durch die Ebene der Super-8-Filme, die mein Onkel in den 1970er Jahren gedreht hatte, parallel geführt. Sie repräsentieren die Kindheitserinnerungen, konkretisiert anhand einer Urlaubsreise, die aus verschiedenen Situationen und Reisen während meiner Kindheit ebenfalls zu einer Film-Reise verdichtet wurde.
Die Gespräche zwischen Vater und Tochter in den sogenannten „Arbeitssessions“ auf der tatsächlichen Reise zu den Orten der Familiengeschichte in Lettland und Polen, ist eine innere Reise. Sie brauchte viel Zeit zur inneren Verarbeitung. Erst viel später ist mir aufgefallen, wie stark die Bilder sowie die Aufnahmen des Vaters und der Tochter voneinander separiert waren. Erst gegen Ende kamen sie sich auch visuell näher.
Erinnerungsbilder
Jeder und jede hat vielleicht schon einmal die Erfahrung gemacht, dass sich Erinnerungen verändern können und es die eine fixe Erinnerung so gar nicht gibt. Mit wiederholten Erzählungen formt sich die Erinnerung neu und wird manches Mal überschrieben oder neu kontextualisiert. Die Erinnerungen kommen in uns hoch, verändern sich und verschwinden wieder, um erneut zu erschienen. Ich versuche dies durch die Animationen, es sind Fotografien die sich schemenhaft aus weißem Hintergrund entwickeln, anfangs einer fragilen Zeichnung gleich, visuell anzudeuten. Immer wieder entwickeln sich so im Film Bilder zu Erzählungen, und während des Betrachtens „entwickeln“ sich möglicherweise innere Bezüge zu eigenen Erfahrungen, Wahrnehmung und Erinnerung oder Fragestellung des_der Betrachter_in.
So erinnert sich mein Vater an seine Rolle als Kind, als Sohn, als Student, aber auch als Ehemann und letztlich Vater. Die Geschichte meiner Großmutter versuche ich parallel mit zu erzählen, um ein ergänzendes, aber auch anderes Bild, als das ihres Sohnes, zu schaffen. Es geht um meine Erinnerung als Enkelin und als Frau. So treffen immer wieder verschiedene Blickwinkel, seine, meine und die meiner Großmutter auf ein und dieselbe Geschichte.
Es ist eine Reise zu den wunden Punkten der Familie – zum Pakt des Schweigens. Diese wunden, beschwiegenen Punkte sind zeitlich im Nationalsozialismus eingebettet, zu dem meine Großmutter keine kritische Distanz einnehmen konnte, ja jede Erinnerung sich daran untersagte, zu überlagert war diese Zeit mit großen Verlusten. So schreibt sie:
Meine Tagebücher gingen in dem Strudel der Flucht verloren, und lange Jahre habe ich mich gehütet, Erinnerungen an die einstigen Gedanken und Erlebnisse heraufzubeschwören. Sie passten nicht mehr in ein Dasein, das in zwei ungleiche Teile gespalten worden war. […] ich [hielt] die „persönlichen Erlebnisse bis 1945“ in meinem Gedächtnis gleichsam unter strengem Verschluss.
Diesen „strengen Verschluss“, denke ich, spürte ich wohl all die Jahre und meine Neugierde war nicht zuletzt deshalb so groß, ihrer Spur nachzugehen. Es waren aber auch Angst und üble Phantasien im Spiel, wenn ich an die Rolle meiner Großeltern während des Nationalsozialismus dachte. Würde herauskommen, dass ich von Verbrechern abstammte?
Die Schuld der Verstrickung der (Groß)Elterngeneration in den Nationalsozialismus machte in einem unbewussten Prozess die zweite Generation auch zu Anklägern und Richtern der Eltern. Hier kann auch die Frage gestellt werden, welche Bedeutung die Abwehr der Schuldverstrickung der Elterngeneration für die Entstehung von späteren politischen Protestbewegungen, wie der 68er-Bewegung, hatte? Oder später folgend, die Entstehung von alternativen und spirituellen Bewegungen, die andere Formen des Zusammenlebens suchten. So ging mein Onkel Ende der 1970er Jahre als Anhänger des Bhagwan Shree Rajneesh nach Indien und gab seine bürgerliche Existenz auf. Das erschütterte die gesamte Groß-Familie.
Auf unserer Reise nach Lettland und Polen waren die Rollen zwischen Vater und Tochter umgedreht. Nicht mein Vater zeigt mir seine Vergangenheit, seine Kindheitsorte, sondern ich zeige ihm durch meine vielen Recherchen die Familienorte, die er anfangs nicht sehen wollte. Wie seine Mutter, meine Großmutter, hatte er dieses Kapitel auch unter „strengen Verschluss“ gehalten.
Oftmals sind die Kinder und Kindeskinder der Kriegsgeneration im Sinne der unbewussten Übertragung und der Schuld-Abwehr Komplizen des Schweigens. Was also passiert, wenn dieses Schweigen gebrochen wird?
Die Umbrüche in Familienbiographien erscheinen mir als ein komplexes Gefüge, ein Dickicht aus sich überlagernden Schichten der Vergangenheit, die es nachzuvollziehen gilt, um die kalten Schatten der Vergangenheit los zu werden. Für meine Arbeiten hieß das: Gegen üble Phantasien und quälende Fragen hilft nur die Überprüfung mit der Realität. Also Licht an, wenn Geister im Haus spuken!
Schluss-Sequenz des Films
Wenn ich heute an die Reise denke, wundere ich mich über den Mut, mit dem wir uns der Vergangenheit stellten. Es steckt (bekanntermaßen) viel Sprengstoff in der Erforschung von Wurzeln, die teils abgekappt werden mussten, um zu überleben, die dann aber in der nächsten Generation wieder unbewusst gesucht wurden, um zu leben. Andererseits sind die großen Enthüllungen und Skandale, die ich mir phantasiert und vor denen ich große Angst hatte, ausgeblieben. Meine Großeltern waren zwar keine nationalsozialistischen Schlächter und Kriegsverbrecher in hoher Position gewesen, leider aber auch keine Widerstandskämpfer- und HeldInnen gewesen. Ihre Rolle ist ambivalent und uneindeutig. Klar wurde aber, dass sie Mitläufer und Profiteure des Regimes waren. Bei den vielen Gesprächen mit meinem Vater wurde deutlich, wie stark er in der Nachkriegszeit noch in einem Klima mit nationalsozialistischem Idealen aufgewachsen war. Wie vermutlich die Vorfahren vieler Familien in Deutschland und Österreich, hatten sich meine Vorfahren, die Großelterngeneration, nie vom Nationalsozialismus distanziert. Diese langen Schatten der Vergangenheit ragen in unsere Gesellschaft hinein.
In den letzten Wochen vor dem Ende des Schnitts, zu einem späten Zeitpunkt also, wurde mir die innere Dynamik der Reise, des Films und die Beziehung zu meinem Vater in Bezug auf die traumatische Verstrickung der vererbten Gefühle in einem neuen Aspekt bewusst. Wie zu Beginn meiner Recherchen, als ich im Radio eine Sendung über die transgenerationale Übertragung hörte, sah ich nun eine wissenschaftliche Dokumentation über die vererbten Gefühle. Dort ging es um die Kinder der Traumatisierten, die sich den Traumatisierten unterordnen und ihre eigenen Bedürfnisse zurück stecken, da das erfahrene Leid der Eltern übermächtig ist. Als Kind hatte ich Angst vor der Wut meines Vaters, vor allem aber vor seinen Stimmungsschwankungen, dem Verstummen, der Wortlosigkeit und der Versteinerung. Blitzschnell konnte sich die Stimmung meines Vaters ändern und sich im schlechtesten Falle gegen mich wenden. Doch durch die Reise hatte ich die Quelle seiner Wut kennen gelernt und deren Auswirkung auf mich. Schon in meiner Kindheit ordnete ich meine Bedürfnisse den seinen unter, ich funktionierte, nahm mir keinen Raum. Konkret hieß das aber auch während des Drehs: Ich ließ ihn reden, widmete mich seiner Geschichte, ordnete meine Betroffenheit unter der seinen. Auch im Schnitt nahm er sehr viel Raum ein. Denn seine Traumatisierung war ja eindeutig, ich war ja „nur“ sekundär betroffen – und überhaupt: Handelte es sich nicht um Luxusprobleme? Doch genau diese Unterordnung entspricht dem System der vererbten Gefühle. Im Erkennen dieser Zusammenhänge hatte ich mein Schlusswort gefunden.
* „Umgesiedelt – Vertreiben. Deutschbalten und Polen 1939-1945 im Warthegau“. Tagung in Poznań (Posen) vom 16.-18.10.2009, veranstaltet von der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V. (Darmstadt) und dem Instytut Zachodni (Poznań). 2010 erschienen unter demselben Titel herausgegeben von Eckhart Neander und Andrzej Sakson die Beiträge dieser Tagung im Verlag Herder-Institut, Marburg.